Vorausschauende Lieferkettenstrategie

Vorausschauende Lieferkettenstrategie

Peter MacLeod spricht ausschließlich mit Siemens’ Supply-Chain-Experten Alexander Tschentscher darüber, wie man eine Logistiklandschaft mit Robustheit im Kern entwickelt.

Da sich Lieferketten unter Druck durch globale Störungen, regulatorische Komplexität und technologische Veränderungen weiterentwickeln, ist Siemens Vorreiter bei einem strategischen Wandel, indem es seine Kultur transformiert, um nicht nur Resilienz, sondern auch Robustheit in den Lieferkettenprozessen zu verankern. Auf der kürzlichen DELIVER Europe Veranstaltung in Amsterdam hielt Alexander Tschentscher, Vice President Supply Chain Excellence und Leiter Strategie – Supply Chain & Logistics bei Siemens, eine überzeugende Keynote, die Logistikprofis dazu aufforderte, „strategisch zu denken.“ Ich habe mit Alexander nachgehakt, um zu erkunden, wie sein Team die zukunftsorientierte Lieferkette von Siemens gestaltet und wie Unternehmen in der Branche, insbesondere solche mit starkem Fertigungselement, von ihrem Ansatz profitieren können.

Tschensters Verantwortungsbereich lässt sich am besten als Gestaltung der zukünftigen Lieferkette innerhalb des operativen Unternehmens Siemens Smart Infrastructure beschreiben. Als Leiter für Supply Chain Excellence und Programmleiter für Supply Chain Strategie ist er sowohl Architekt als auch Treiber der strategischen Ausrichtung in den Bereichen Supply Chain und Logistik. Sein Hintergrund ist so breit gefächert wie tief: Vor seiner aktuellen Rolle war er verantwortlich für Logistik und Beschaffung innerhalb der Siemens Distribution Systems, einem Teil des gleichen Smart Infrastructure Geschäfts. Frühere Stationen in Managementberatung, Rohstoffmanagement, Projektmanagement und Logistik haben einen Führungsstil geprägt, der auf kultureller Transformation und Innovation basiert. Etwas Neues zu schaffen, war stets ein zentrales Thema seiner beruflichen Laufbahn.

Bei Siemens ist er nun verantwortlich für die strategische Steuerung einer Gemeinschaft von 4.000 Supply-Chain-Profis, die jährlich über 400.000 Tonnen in einem Netzwerk von 160 Lagern bewegen, die Branchen bedienen, in denen Ausfallzeiten Blackouts oder Schlimmeres bedeuten können.

Strategie statt Feuerbekämpfung

„Die meisten Supply-Chain-Profis sind Feuerwehrleute“, sagt Tschentscher (im Bild unten mit Peter MacLeod) bei einer Tasse Kaffee in der Sustainability Lounge auf DELIVER Europe. „Sie sind hervorragend darin, auf akute Probleme zu reagieren, Verzögerungen zu lösen, Störungen zu bewältigen.“

Aber können Organisationen dieses Betriebsmodell in der heutigen geopolitischen Landschaft noch lange aufrechterhalten? Von COVID-19 und blockierten Kanälen bis hin zu Cyber-Bedrohungen und Klimavorschriften – Lieferketten sind nicht mehr nur gelegentlich gestört, sondern ständig. Das traditionelle Krisenreaktions-Handbuch ist veraltet. Stattdessen plädiert Tschentscher für einen Wandel im Denken: Strategisches Denken tief in die Unternehmenskultur zu verankern.

Bei Siemens basiert dieser Wandel auf einem Entwicklungsrahmen, der in der gesamten Supply-Chain-Organisation ausgerollt wird und mehr ist als nur die Schulung von Mitarbeitern. Es geht darum, die DNA der Organisation neu zu kalibrieren. „Wir haben eine Lernreise geschaffen“, erklärt er. „Wir beginnen mit einer Selbstbewertung, gefolgt von maßgeschneiderten Lernpfaden, Experten-Tiefenanalysen und schließlich einem Strategie-Bootcamp, das ein klares Verständnis von Vision, Mission und operativer Ausrichtung vermittelt.“ Das Ergebnis ist, dass jeder Profi in der Kette vorausschauend denken kann, nicht nur schnell handeln.

Von Resilienz zu Robustheit

Die vorherrschende Sprache im Supply-Chain-Management hat sich in Richtung Resilienz verschoben, ein Thema, das in fast jedem Gespräch mit einem Supply-Chain-Experten angesprochen wird. Doch Tschentscher widerspricht dem und argumentiert, dass Resilienz zwar notwendig, aber reaktiv ist. Sein Ziel ist eine aspirativere Zielsetzung: Robustheit.

„Resilienz bedeutet, den Sturm zu überleben“, sagt er. „Robustheit bedeutet, die Struktur so zu bauen, dass der Sturm dich gar nicht erst zerstört.“

Diese Unterscheidung ist persönlich. Alexander, Überlebender eines Krebses, vergleicht Resilienz mit der Bewältigung einer Chemotherapie: hoher Aufwand, hoher Verzicht. Robustheit hingegen zielt darauf ab, Rückfälle zu verhindern: Systeme zu entwerfen, die Krisen ganz vermeiden. Übertragen auf die Lieferkette bedeutet das, nicht nur auf die nächste Störung vorbereitet zu sein, sondern Systeme zu entwickeln, die absorbieren und anpassen können, ohne die Mitarbeitenden auszubrennen.
„Wir setzen die Menschen unter Druck. Zuerst ist es dringend, dann sehr dringend, dann extrem dringend. Schließlich wird der Druck untragbar“, warnt er.

Vier Kräfte, die die Zukunft formen

Im Zentrum der Strategie von Siemens stehen vier makroökonomische Kräfte, die Lieferketten branchenübergreifend neu definieren:

  1. Künstliche Intelligenz (KI): Nicht mehr nur ein ferner Begriff, KI wird bereits in Prozessen von Prognosen und Planung bis hin zu Verhandlung mit Lieferanten eingesetzt. Doch Tschentscher warnt davor, KI als Zauberstab zu sehen. „Zu oft sehen wir, dass KI genutzt wird, um schlechte Datenqualität zu kaschieren oder schwache Prozesse zu reparieren“, sagt er. „Der wahre Wert entsteht, wenn KI bewusst in bestimmte Wertschöpfungselemente eingebettet wird, mit klaren Rollen für Menschen und Maschinen.“
  2. Regulierung und Verwaltung: Der Wandel von Globalisierung zu Regionalisierung hat eine Ära der regulatorischen Komplexität geschaffen. Tschentscher weist darauf hin, dass Zölle beispielsweise die Abläufe in der Lieferkette grundlegend umgestalten. Unternehmen wie Siemens mussten ihre globale Beschaffungsstrategie überdenken und sich auf Lokalisierung umstellen, um politischen und regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden.
  3. Arbeitskräfteentwicklung: Generationen X, Y und Z bringen neue Erwartungen wie Flexibilität, Sinnhaftigkeit und digitale Kompetenz mit. Doch sie zögern auch, in die traditionell hochdruckbelastete Welt der Logistik einzutreten. Es geht nicht nur darum, Jobs anzubieten, sondern die Karrieren in der Lieferkette neu zu definieren und Menschen zu befähigen, strategisch und mit Ziel zu arbeiten, glaubt Tschentscher.
  4. Kaskadierende Nachhaltigkeit: Während ESG früher eine Top-Down-Initiative war, ist sie heute unverhandelbar, oft verbunden mit Compliance- und Investitionskriterien. Nachhaltigkeit ist mehr als eine Mission, sie ist eine regulatorische Schwelle. Siemens integriert Nachhaltigkeit direkt in seine Logistikprozesse, von Kreislaufplanung bis hin zu Emissionsreduktion im Transport und in Lagern.

Industrielle Lieferkette unter Druck

Während sich ein Großteil der DELIVER Europe Veranstaltung auf Verbraucher- und Einzelhandelslogistik konzentrierte, bringt die industrielle Lieferkette von Siemens einzigartige Herausforderungen mit sich. Die Division Smart Infrastructure bedient kritische Branchen – Stromnetze, Gebäudeautomation und Energiesysteme – mit Produkten für niedrige und mittlere Spannungen. Es handelt sich meist um langlebige und hochriskante Produkte wie Schalter und Steuerungen für Krankenhäuser, Fabriken und Kernkraftwerke.

Das bedeutet, dass Siemens nicht einfach zu neuen Lieferanten oder Plattformen wechseln kann, wann immer es will. „Wir operieren in dem, was ich eine Welt der Zertifizierung nenne“, erklärt Tschentscher. „Wenn ein Teil nicht verfügbar ist, können wir nicht einfach ein anderes bei Temu oder Amazon beziehen! Diese Komponenten schützen Systeme und Leben. Wir brauchen absolute Sicherheit bei Qualität und Einhaltung.“

Diese Einschränkung erhöht die Komplexität, hebt aber auch die Bedeutung langfristiger Lieferantenpartnerschaften, der Sichtbarkeit in der Lieferkette und eines robusten Risikomanagements hervor. KI kann nicht einfach integriert werden. Mit Blick auf die Erfahrung von Marks & Spencer, die zum Zeitpunkt des Interviews präsent war, erklärt Tschentscher, dass Siemens eine spezielle interne Schicht für generative KI nutzt, um Cybersicherheit und Compliance zu gewährleisten, was in industriellen Anwendungen besonders sensibel ist. „Wir sind vorsichtig, ja, aber nicht passiv“, betont er. „Wir setzen KI ein, aber auf sichere Weise.“

Enablement-Kultur

Für Tschentscher ist Technologie allein nicht ausreichend. „Wir können den Leuten ein Formel-1-Auto geben, aber wir fragen nicht immer, ob sie einen Führerschein haben“, scherzt er. Kultur ist für ihn der Unterschied zwischen Umsetzung und Transformation.

Hier zahlt sich die Siemens-Investition in Bildung durch die „Logiversity“-Lernpfade und zahlreiche Universitätskooperationen aus. Siemens schult für Strategie und Entscheidungsfindung. Für die Supply-Chain-Profis in diesem globalen Kraftpaket geht es nicht nur darum, die Werkzeuge zu kennen, sondern zu wissen, wann und warum man sie einsetzt.

Kulturelle Enablement bedeutet auch, menschliche Grenzen anzuerkennen. Als Tschentscher nach China reiste, stießen er und sein Team auf regulatorische Blockaden bei westlichen digitalen Tools – wie ChatGPT und Gamma –, auf die sie sich verlassen hatten, um effizient zu arbeiten. „Das wurde zu einem Demotivationsproblem“, bemerkt er. „Die Leistung leidet, wenn Ihre digitale Toolbox verschwindet.“ Daher ist es entscheidend, Mitarbeitende auf adaptives Denken vorzubereiten, nicht nur auf operative Umsetzung.

Ein komplexer Ausblick

Wie sieht die Zukunft aus? Für Siemens und viele andere in der Branche wird es wahrscheinlich eine Mischung aus menschlicher Intuition und maschineller Intelligenz sein, ermöglicht durch strategische Klarheit und kulturelle Resilienz. „Für mich ist das Hauptthema, über deine Lieferkette nachzudenken, die Elemente, die du hast, und welchen Teil du langfristig mit KI integrieren möchtest“, sagt Tschentscher. „Und wenn du es offen kommunizierst, ist das genau das, was die Belegschaft tun muss.“

Für andere Unternehmen mit Logistikfunktionen im Kern ist die Botschaft klar: Warte nicht auf die nächste Störung, um deine Lieferkette neu zu gestalten. Fang jetzt an. Denke strategisch. Baue eine Kultur auf, in der strategisches Denken nicht nur im Vorstandszimmer stattfindet, sondern eine tägliche Gewohnheit auf allen Ebenen der Organisation ist.
Denn, wie Tschentscher sagt: „Wenn du keine Strategie hast, wirst du Teil von jemand anderem.“

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